DIE VERWIRRTUALISIERUNG EINES MIETSHAUSES (UND SEINER LIEBEN MITMENSCHEN) NACH WERNER SCHWAB
VLKSVRNCHTNG überträgt die heillos verfeindeten Charaktere einer Mietshausgemeinschaft aus Schwabs legendärem Theaterstück „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ (1991) in den virtuellen und abstrakten Raum einer Zukunftsgesellschaft. Die Inszenierung in einer ehemaligen Lagerhalle im Hamburger Oberhafenquartier geht der Frage nach, welche Auswirkungen die stetig zunehmende Virtualisierung, Digitalisierung und Maschinisierung der menschlichen Lebenswelt auf den individuellen und gesellschaftlichen Körper hat.
Schwabs Theaterstück, ursprünglich angesiedelt in einem Grazer Mietshaus, trifft in der Neuinterpretation von Matthias Mühlschlegel, Jannis Klasing, Greta Granderath und einem großen Team aus Puppenspieler*innen, Darsteller*innen, Musiker*innen und bildenden Künstler*innen auf widerspenstige Körper-Avatare und überbordende virtuelle Welten. Auf der Folie von Schwabs Theaterstück und dessen Kunstsprache entsteht ein surreal-psychedelisches Science-Fiction-Szenario: In vier verschiedenen Räumen, die ein sonderbares Eigenleben zu führen scheinen, sind die Spieler*innen in lebensgroßen, mutierten Puppenkörper-Avataren mit der Frage konfrontiert, was vom Mensch-Sein übrig bleibt, wenn alles auf äußerliche, performative Optimierung ausgerichtet ist.
Wir befinden uns in nicht allzu ferner Zukunft… Herrmann Wurm, ein dreißigjähriger, erfolgloser, aber fantasiebegabter Künstler mit Klumpfuß und seine streng religiöse, ordnungsfanatische Mutter wohnen zusammen in einem Mietshaus, das noch aus alter industrieller Zeit stammt. Neben ihnen wohnen die Kovacics: Eine vom Staat auserkorene Musterfamilie, die ihr Privatleben für soziologische und ökonomische Forschungszwecke geopfert hat und sich mit großem hedonistischen Eifer rund um die Uhr in ihrem Wohnungs-Showroom präsentiert. Und ganz am äußersten Rand des Mietshauses wohnt die vereinsamte Frau Grollfeuer, eine ältere, stolze Dame des gehobenen Bildungsbürgertums, wie es sie in dieser neuen Epoche nur noch selten gibt. Außer Frau Grollfeuer sind alle mit der Mode der Zeit gegangen und haben sich hochtechnologische Körperavatare zugelegt, die ihrem persönlichen Idealbild entsprechen sollen, jedoch, wie ihre Träger selbst, fehlerhaft und völlig aus der Form geraten sind. In diesem eigenartigen Mietshaus herrscht der permanente Ausnahmezustand: Alle bekriegen und erniedrigen sich gegenseitig, weil niemand mehr den inneren Druck erträgt, permanent ein Bild von sich darstellen und behaupten zu müssen, während sich doch eigentlich keiner mehr wirklich spüren und lebendig fühlen kann. Bis Frau Grollfeuer schließlich einen teuflischen Plan ausheckt, der alles ändern wird …
VLKSVRNCHTNG bearbeitet das Schwab'sche Stück vor dem Hintergrund des digitalen Wandels der letzten Jahrzehnte und konkreter transhumanistischer Zukunftserwartungen vom „ewigen Leben“. Ausgangspunkt für eine kritische, sinnliche und lustvolle Theaterproduktion wird Schwabs satirisches Sprach-Programm des ausgehenden 20. Jahrhunderts, das bereits einen abtastenden und maschinellen Blick beinhaltet und die digitale Vermessung des Lebens scheinbar vorwegnimmt. Zugleich offenbart Werner Schwabs Radikalkomödie jedoch auch eine ungeheure Bewusstmachung des Menschen als ein ewig spannungsgeladenes, seinem Säugetier-Körper verhaftetes Wesen, das in seiner emotionalen Determiniertheit allen futuristischen Visionen radikal trotzt.
Während Ray Kurzweil – Google-Director of Engineering und einer der zentralen Wortführer der transhumanistischen Zukunftsvorstellungen – die Vision eines ewigen Lebens mittels neuester Technologien ganz nüchtern als machbare Vision in den Raum stellt, fragen die Schwab'schen Figuren: Warum? Wofür wollen wir, geschweige denn: ewig leben? Sie fragen anders herum: Ewig? Ewig weiter mit dem Elend? Wir wissen doch schon nicht mal mehr, wie wir den nächsten Tag (r)umbringen...
Im Anschluss an die Vorstellungen am 29.09.2017, am 30.09.2017 und am 01.10.2017 finden Publikumsgespräche unter der Überschrift "Rechtsextremismus, Humanismus und Transhumanismus und die Ideologiekämpfe um das Menschenbild von morgen" statt. Diese offenen Diskussionsrunden werden gefördert von der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration.
Gefördert durch:
KÜNSTLERISCHES TEAM
Das künstlerische Team setzt sich zusammen aus dem Regisseur Matthias Mühlschlegel, den Dramaturg*innen Greta Granderath und Jannis Klasing, der Bühnenbildnerin Luise Zender, der Kostümbildnerin Ada Oehrlein, der Puppenbauerin Nathalie Wendt, dem Sounddesigner Andreas Mühlschlegel sowie den SchauspielerInnen Tobias Schülke, Wiebke Wackermann, Moritz Grabbe, Alina Weber, Andreas Nachtmann, Katrin Bethke und Susanne Stangl. Das Team greift zurück auf gewachsene künstlerische Arbeitszusammenhänge des Performancekollektivs „Unkoordinierte Bewegung“, der Theaterakademie Hamburg, der Probebühne im Gängeviertel und des Produktionsbüros Stückliesel.